Die Künstlerkolonie Schwalenberg

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt in Frankreich, genauer gesagt in dem kleinen in der Nähe von Paris gelegenen Dorf Barbizon, die Bewegung der Plein-Air-Malerei ein. Mehrere Künstler hatten sich bereits vor 1840 aus der nahen Metropole dorthin zurückgezogen – unter ihnen Francois Millet, Théodore Rousseau, Francois Daubigny, Camille Corot und Gustave Courbet – um unmittelbar in der Natur unter freiem Himmel »plein air« zu arbeiten und dort vor allem die Landschaft und das einfache ländliche Leben einzufangen. Mit ihrer Form des gemeinschaftlichen Arbeitens in der Natur und ihrem gezielten Interesse an Stimmungen und Naturphänomenen legen sie den entscheidenden Grundstein für die Entwicklung von Künstlerkolonien überall in Europa. Die am Wald von Fontainebleau verwirklichte Idee einer künstlerischen Vereinigung »auf dem Lande« abseits der Großstadt, findet in kurzer Zeit zahlreiche Anhänger und Nachahmer, vor allem in Deutschland und den Niederlanden, aber auch in Skandinavien oder Ungarn.

Unter dem Einfluss Barbizons, der Pleinair-Malerei und des damit einhergehenden Interesses an Naturprozessen tritt eine Veränderung ein, welche die Umstände der künstlerischen Produktion nachhaltig beeinflusst. An die Stelle des Erschaffens von Landschaften im Atelier tritt ein intensiver und langfristig angelegter Dialog mit der Natur, um diese in ihrem ganzen Wesen zu durchdringen. Sie wird nicht nur zum zentralen Motiv, sondern zur Lehrmeisterin der Künstler*innen dieser Zeit.

Der Maler und Bildhauer Franz Born kurz vor dem
1. Weltkrieg

Überall verlassen Malerinnen und Maler die städtischen Kunstzentren wie Kopenhagen, Amsterdam, München, Karlsruhe, Düsseldorf und Berlin und ziehen aufs Land in bis dato gänzlich unbekannte Dörfer und Ortschaften wie Skagen, Domburg, Worpswede, Dachau, Ahrenshoop und Schwalenberg. Von 1830−1910 sind es über 3000 Künstler*innen, die vorübergehend, oft jedes Jahr und größtenteils während der Sommermonaten in diese Orte kommen oder sich sogar dauerhaft dort niederlassen. Obwohl es sich keineswegs um eine vorsätzlich geplante oder in irgendeiner Art gesteuerte Bewegung handelt, zieht sie sich dennoch einheitlich über ganz Europa.

Man emanzipiert sich vom akademisch tradierten Kunstbegriff.  Nach dem Vorbild Barbizons geht man mit der Staffelei in die Natur und versucht zu erfassen, was man vor sich sah im Spiegel eigener Empfindungen. Das Schaffen einer unmittelbar an den eigenen Eindrücken und Seherfahrungen orientierten, schlichten und unverfälschten und vor allem subjektiven Malerei ist das Ziel. Es sind nun die atmosphärischen Stimmungen, die Farben der Landschaft, das Spiel des Lichts, der Tages- und Jahreszeiten, welche die Bilder bestimmen.

Betrachtet man den Ort Schwalenberg, die alte Ackerbürgerstadt mit ihren pittoresken Fachwerkhäusern, den verwinkelten Gassen, der Burg hoch oben auf dem Berg und die den Ort umgebende, idyllische Landschaft mit ihren sanften Hügeln, den Feldern und dichten Wäldern, sowie dem besonderen Naturphänomen des Hochmoores Mörth,

das die ganz eigenen Lichtverhältnisse und Farbspiele bedingt, dann fällt es nicht schwer zu verstehen, warum der Ort im Südosten der Region Lippe, obwohl von Metropolen weit entfernt, ebenfalls zum Anziehungspunkt für Künstler*innen, vor allem aus Berlin und Düsseldorf, wird. Hier finden sie all das. Vor allem die ersehnte Beschaulichkeit und Urtümlichkeit, die ihnen die Großstadt nicht bieten konnte.

Robert Kämmerer d. Ä. . Lippstadt 1870* – 1950✝︎ Berlin . Das Mörth im Herbst, 1925 . Ölgemälde . 52 x 62 cm . Städtische Galerie Schwalenberg

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts entdecken die ersten Künstler, zunächst vor allem aus dem Düsseldorfer Raum, Schwalenberg. Hier sind vor allem Gustav Adolf Köttgen, Adolf Lins, Christian Kröner, Anton Henke und Werner Schuch zu nennen. Die eigentliche Entwicklung zur Künstlerkolonie setzt dann kurz nach der Jahrhundertwende ein. Vor allem Vor allem Künstler aus Berlin und Umgebung kommen nun im Zuge der Sommerfrische-Bewegung nach Schwalenberg.

Elisabeth Ruest . Burg Schwalenberg, 1912 . Radierung

So entsteht zu Beginn des 20. Jahrhunderts – vor allem in den Sommermonaten – eine »temporäre Künstlerkolonie«, die ihre Blütezeit in der Zeit von 1919−1933 erlebt, bis ihr schließlich – wie den meisten anderen Künstlerkolonien – durch den Beginn des Zweiten Weltkrieges ein vorläufiges Ende gesetzt wird.

Unter den Künstlern, die sich nach der Jahrhundertwende immer wieder gezielt für längere Aufenthalte in Schwalenberg niederlassen, sind u.a. Hans Bruch, Albert Kiekebusch, Ludwig Kath, Franz Emil Born, Robert Kämmerer d.Ä., Robert Kämmerer Rohrig, Ernst Röttecken, Hans Northmann, Nelly Cunow, Elisabeth Ruest, Alfred Ullmann, Friedrich Eicke und Robert Koepke. Hans Licht, seinerzeit einer der führenden impressionistischen Maler in Berlin, der den Sommer über in Schwalenberg eine Malschule betreibt und zahlreiche seiner Schüler*innen nach Schwalenberg holte und Magnus Zeller, einer der wenigen in Schwalenberg tätigen Künstler, die auch später deutliche Spuren in der Kunstliteratur hinterlassen.

Eine wichtige Rolle spielt zu dem der örtliche Wirt Hermann Niederbracht. Durch dessen großes kulturelles Interesse wird sein »Gasthof Meyer« zum Haupttreffpunkt

der Künstlerinnen und Künstler und sogar zur »Künstlerklause« umbenannt, Hans Licht richtet hier seine Malschule ein. Auch in den anderen Gasthöfen – wie dem »Berggarten« oder dem »Malkasten« – beziehen die Künstler Quartier und auch viele Privatleute bieten Unterkünfte an. Dies ermöglicht einen engen Kontakt zwischen Künstlern und Bewohnern – ein innerhalb der Künstlerkolonien eher seltenes Phänomen. Noch heute zeugen die Bilder im Besitz der Gasthäuser von diesem Austausch. Die Werke, die im Gasthof Meier im Laufe der Zeit zusammengetragen wurden, werden später zum bedeutenden Grundstock der Sammlung der Kulturagentur des Landesverbandes Lippe, die heute regelmäßig in der Städtischen Galerie präsentiert wird.

Ludwig Kath . 1896−1952 . Ohne Titel (Hügellandschaft) 1940er Jahre . Aquarell . 29,5 x 44 cm . Archiv Verein Berliner Künstler . Foto©Ihle, LLM

Seit 1978 knüpfen die Kulturagentur des Landesverbandes Lippe und die Stadt Schieder-Schwalenberg gemeinsam mit regelmäßigen Kunstausstellungen und Veranstaltungen, seit 1992 in Kooperation mit dem Kunstverein Schieder-Schwalenberg e.V.) an die Tradition Schwalenbergs als Künstlerkolonie an und halten ihr Erbe aufrecht. Dadurch ist es Schwalenberg gelungen, die Historie des Ortes und seine Authentizität über die Jahre zu bewahren und zugleich in die Gegenwart zu überführen. In den vergangenen Jahrzehnten hat es sich als Künstlerort neu definiert und entwickelt sich als solcher stetig weiter.

Es werden nicht nur Ausstellungen gezeigt, die das Erbe der historischen Künstlerkolonie und ihrer Vertreter hochhalten. Der Kunstverein Schieder-Schwalenberg e.V. und die Lippische Kulturagentur des Landesverbandes Lippe zeigen bewusst zeitgenössische Positionen und laden Bewohner:innen wie Besucher:innen zum Dialog ein.

Ein Künstlerstipendium ermöglicht es jungen Kunstschaffenden, für einen längeren Zeitraum, inspiriert von der sie umgebenden, einmaligen Atmosphäre dieses Ortes zu leben und zu arbeiten.

Max Hampel . Stipendiat 2022 . aus schwarz-weisser Reihe, 2022
© Max Hampel

Alessia Schuth . Stipendiatin 2021 . consider selfhood, 2021 . Rauminstallation im Robert Koepke Haus . ca. 500 x 500 x 400 cm . Thermoplast (PLA), Kunsthaar, Malpappe, Seil, div. © Alessia Schuth

Maria Trezinski . Stipendiatin 2020 . Schleierpilz, 2020 . Öl- und Sprühfarbe auf Leinwand . 40 x 30cm

Klaus Schiffermüller . Stipendiat 2018 . Juni, 2018 . Öl auf Leinwand . Triptychon 145 x 270 cm
Foto © Ladislav Zajac
Ankabuta . Stipendiatin 2017: Polhof 3 . 2017 / Drahtobjekt
Anastasiya Nesterova . Stipendiatin 2015: Rapsfelder und Straße . 2015 / Farbholzschnitt . 70 x 100 cm
© VG-Bild-Kunst, Bonn 2020

Die alljährlich stattfindende Sommerakademie nimmt die Tradition des beginnenden 20. Jahrhunderts wieder auf und ist in den Sommermonaten ein temporärer Ort des intensiven künstlerischen Austauschs und der Produktivität.

Nicht zuletzt sind es aber auch die alteingesessenen wie neu hinzugezogenen Künstler:innen sowie die kunst- und kultursinnigen Bewohner:innen Schwalenbergs, die durch eine Vielzahl an Initiativen und ihr persönliches Engagement den Ort lebendig halten.

Infolge der Gentrifizierung verlegte die Berliner Künstlerin Helga Ntephe ihr Atelier 2016 nach Schwalenberg, wo sie von 2001–2020 zu den Dozenten der Sommerakademie gehörte.

Helga Ntephe . SPURENsuche // PAULINA : die Regentin . 2020 / digital art © VG-Bild-Kunst, Bonn 2021

Nach ihrem Studium in Maastrich, Niederlande arbeitete Meike Lothmann zunächst in Berlin und Essen. Seit 2014 hat sie ihr Atelier in Schwalenberg.

Meike Lothmann . Tracht in Schichten, 2022 . Installation Schloß Brake 2023

Seit 2015 baut der noch in Leipzig lebende Maler und Musiker Jürgen Noltensmeier an seinem Atelierhaus in der Schwalenberger Altstadt. Geboren im Kalletal, kehrte er immer wieder nach Lippe zurück, u. a. als Dozent der Schwalenberger Sommerakademie.

Jürgen Noltensmeier . Schwalenberger Licht I . 2018 / Eitempera auf Leinwand . 160 x 120 cm

Aus Köln zog der Bildhauer und Maler Harald Frehen nach Schwalenberg und arbeitete von 1993–2018 im Künstlerhaus Schwalenberg. Hierher kehrt auch die ehemalige Stipendiatin Anastasiya Nesterova jedes Jahr zu mehrmonatigen Arbeitsaufenthalten zurück. Es ist wohl die konzentrierte »Stille« und die besondere Atmosphäre, wohin man sich von dem Trubel des Kunstbetriebs zurückziehen kann um Neues auf den Weg zu bringen.

Harald Frehen . Der Weisse Hirsch / Objekt © VG-Bild-Kunst, Bonn 2020

Das sieht auch Ellen Baumbusch so. Vor vielen Jahren hat sie, heute im Markgräfler Land lebend, in Schwalenberg gewohnt. Als ehemalige Teilnehmerin der Sommerakademie Schwalenberg hat sie sich im Laufe der Jahre zu einer ernsthaften Bildhauerin entwickelt und unterrichtet inzwischen selbst an der Sommerakademie.


Die Kulturagentur des Landesverbandes Lippe und die Stadt Schieder Schwalenberg haben eine umfangreiche Sammlung von Arbeiten der Künstler aus der historischen Künstlerkolonie. Heute ist die Malerstadt Mitglied bei EuroArt, dem europäischen Zusammenschluss der historischen Künstlerkolonien.


Weiterführende Informationen zu:
Ankabuta ankabuta.com
Max Hampel mehr auf…
Meike Lothmann meike-lothmann.de
Anastasiya Nesterova anastasiya-nesterova.de
Jürgen Noltensmeier noltensmeier.net
Helga Ntephe ntephe-art.de
Klaus Schiffermüller klaus-schiffermueller.com
Alessia Schuth alessiadaniaschuth.de
Maria Trezinski: boxings.wordpress.com

Quellenangaben der uns dankenswert zur Verfügung gestellten Abbildungen:
Fred Jahnke malerkolonie-schwalenberg.de
Sammlung Lippische Kulturagentur, LVL landesverband-lippe.de
Archiv Verein Berliner Künstler vbk-art.de

Wir danken Vanessa Charlotte Heitland M.A. für den Text © 2018
ergänzend bearbeitet von Helga Ntephe, 2021